Am 31. Januar feierte die Akademie Menschenmedizin ihren 10. Geburtstag mit einem Jubiläumsanlass in Basel. Nebst hochkarätigen Gastvorträgen zum Tagesmotto «Risiken überall!» stand der Austausch darüber, was die kommenden zehn Jahre amm bringen sollen und können, im Zentrum.
Rund 200 Anwesende konnte Annina Hess-Cabalzar in der Aula des REHAB Basel begrüssen. Die amm-Präsidentin blickte kurz auf die Anfänge der Akademie zurück. Warum sich ein anfangs lockerer Zusammenschluss von Gleichgesinnten zur Akademie Menschenmedizin verfestigt habe? – Es habe im Gesundheitswesen einfach zu viele politische Probleme und Missstände gegeben, die es verdienten, bearbeitet zu werden – und es gebe sie noch heute.
Ins gleiche Horn stiess der Arzt und Kabarettist Dr. Eckart von Hirschhausen, der per Videoschaltung eine Grussbotschaft zum Jubiläum übermittelte: Alles, was Gemeinschaft erzeuge und Sinn stifte, so Hirschhausen, komme in einem ökonomisierten Gesundheitswesen immer häufiger zu kurz. Ob die heutige Medizin mehr nütze als schade, sei nicht mehr eindeutig zu sagen. Hirschhausens Kurzdiagnose: Zuviel Technik, zu wenig Gespräch. Umso mehr halte er der amm die Daumen fest gedrückt: Mit ihrer Aufgabe, gegen das Unmenschliche in der Medizin anzukämpfen, habe sie zweifellos ein dickes Brett zu durchbohren.
Bildergalerie
In unserer kleinen Galerie erhalten Sie einen Eindruck vom Anlass.
Vortragsreihe: «Risiken überall!»
Bernd Hontschik: «Wir riskieren, dass die Heilkunst wirtschaftlichen Überlegungen geopfert wird»
Der Chirurg, Kolumnist und amm-Beirat Dr. med. Bernd Hontschik promovierte schon in den 1980er-Jahren zu unnötigen Blinddarmoperationen. Er konstatiert, dass Heilkunst und Therapiefreiheit angesichts eines zunehmenden Ökonomisierung des Gesundheitswesens auf der Strecke zu bleiben drohten. Immer engere Leitlinien liessen immer weniger Spielraum für die Behandlung, und der Zwang, eine Diagnose in eine Zahlen-Buchstaben-Kombination zu pressen, die digital verarbeitet und ausgewertet werden kann, verkürze diese auf unzulässige Weise. Die Mess- und Vergleichbarkeit dieser Daten sei dabei ohnehin eine Illusion.
Hontschik bemängelte in seinem Vortrag Missstände, wie sie die amm und ein Grossteil der Anwesenden ebenfalls kritisieren. Die schiere Anzahl an absurden Beispielen aus der Praxis hinterliess jedoch nachhaltigen Eindruck und Sorge.
Ernst Hafen: «Statt nur Risiken auch die Chancen digitaler Gesundheitsdaten sehen!»
Auch was das Vortragsthema von ETH-Professor Ernst Hafen, die Erhebung und digitale Auswertung von Gesundheitsdaten, angeht, stehen in der Bevölkerung meist Risiken und Ängste im Vordergrund. Ernst Hafen findet: Man sollte auch die Chancen vermehrt und klarer sehen.
Unsere Daten vor Google, Facebook und Co. schützen zu wollen, dafür sei es zwar zu spät. Jedoch könnten die Menschen selbst diese Daten nutzen. Sie seien mit ihren Smartphones, Bewegungsprofilen, Fitness- und Gesundheits-Apps ohnehin selbst die grössten Sammler von Gesundheitsdaten. Hafen plädiert dafür, diese Daten in Datengenossenschaften zu teilen und je nach individueller Präferenz für Forschungsprojekte zur Verfügung zu stellen, die man als sinnvoll einstuft. So könne ein paralleles Ökosystem aufgebaut werden, dessen Erkenntnisse zum Nutzen der Gesellschaft eingesetzt werden. Patienten und Bürger würden zum aktiven Stakeholder im Gesundheitswesen.
In einem Bereich, wo in der breiten Bevölkerung Ohnmacht angesichts übermächtiger Datenkraken dominiert, vermittelte Ernst Hafens Vortrag eine selbstbewusstere Position und zeigte Perspektiven auf, wie ein Heraustreten aus der «digitalen Leibeigenschaft» möglich sein könnte.
Ludwig Hasler: Risiko Mensch
Ans «Eingemachte» des Menschseins ging es beim Vortrag des Publizisten und Philosophen Dr. Ludwig Hasler. «Wir können die möglichen Folgen unseres Tuns nicht überblicken. Das ist das menschliche Risiko», so Hasler. Dennoch könne es der Mensch nicht lassen, sein (z. B. gesundheitliches) Risiko kontrollieren zu wollen – und tappe zuverlässig in zwei Fallen:
- die «Ödipus-Falle»: Im Bemühen, Risiken zu vermeiden, provozieren wir ständig neue, oft grössere, schlimmere Risiken
- die Algorithmusfalle: Wohl können Algorithmen gesundheitsbezogene Eckdaten überwachen, und zwar fehlerlos. Doch erfassen sie dabei den Menschen als Gesamtes und wie gut oder schlecht es ihm wirklich geht? Menschliches Glück, formuliert es Ludwig Hasler, sei eben nicht nur passgenaues Matching – ob beim Flirt oder bei Massnahmen für das Wohlbefinden. Auch die Medizin habe ein hausbackenes, mechanisches Bild vom Menschen. Sie sollte, so Hasler, mehr von Psychodynamik verstehen!
- Denn Hasler macht auch einen «Risikoakzeptanzbonus» aus, der aus dem «Glück der Verausgabung» resultiere. Statt mit Kräften hauszuhalten, gelte es, sie an etwas Sinnvollem zu verbrauchen.
Nicht nur Schaden, zeigte Ludwig Hasler auf, sondern auch Glück resultiert aus Risiko. Ein Risiko, das wir ohnehin nicht kontrollieren, nicht vermeiden können, da die Folgen unseres Handelns nicht abschätzen können. Freiheit, das bedeute eben auch: das Recht auf Unglück.
Künstlerisches Rahmenprogramm
Ebenso viel Applaus wie die Referenten erhielt Pianist André Desponds für seine improvisierten musikalischen Feedbacks auf die Redebeiträge und sein Abschlusskonzert am Flügel. Und die Theatergruppe «Sixpack» konnte fast die Hälfte der Anwesenden zur Teilnahme an ihrem «Risiko»-Spiel bewegen, was dazu führte, dass gleich 16 Teilnehmer zu einem Stechen um den Hauptgewinn antraten, das amm-Vorstand Thomas Cerny per Papierflugzeugweitwurf für sich entschied. Ein Bild mit Symbolwert? Cerny ist das jüngste amm-Vorstandsmitglied – möge die Jugend die Menschenmedizin weit tragen!
Ausblick: Die nächsten 10 Jahre amm
Denn bei aller Freude über erfolgreiche Angebote und Interventionen und über einen treuen, engagierten Kreis von Personen, die sich intensiv mit der Idee «Menschenmedizin» auseinandersetzen: Der Altersdurchschnitt im Umkreis der amm ist hoch. Mit direkten Angeboten für Patienten (amm Café Med, Begleitung) hat die Akademie zwar bereits Schritte weg von einer reinen Fachorganisation gemacht; dennoch sind oder waren die meisten ihrer Unterstützer beruflich im Gesundheitswesen tätig. Ziel für das zweite Jahrzehnt amm – und im Sinne einer Verbreitung des Konzepts Menschenmedizin – muss zweifellos eine breitere Abstützung und eine Verjüngung sein. Erste Massnahmen dazu sind bereits in Planung – lassen Sie sich überraschen!
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Auch das Magazin «Clinicum» berichtete unter dem Titel «Wer das kleinste Risiko scheut, geht das grösste ein» ausführlich vom Anlass.
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Ackermann Peter, 8910 (Mittwoch, 20 Februar 2019 16:42)
Liebe Familie Hess
Herzlichen Dank für die Informationen. Einfach toll, was ihr in diesen 10 Jahren alles zustande gebracht habt ! Ich lese eure Kommentare immer mit grossem Interesse und Herr Doktor Hess ist für mich immer noch den besten Arzt den ich kenne. Weiterhin viel Freude, Zuversicht, GESUNDHEIT und von Herzen alles Gute. Euer Peter Ackermann, ex. BSA
Seraina Morell G. (Mittwoch, 20 Februar 2019)
Ein Fest! Ein richtiges, gebührendes Fest... herzliche Gratulation - grossartig!
Seraina Morell G.
Theres Blöchlinger (Mittwoch, 20 Februar 2019 19:02)
Aus Interesse gelernt, sich konzentriert und in Spezialisierungen angewendet, darüber im Kollektiv nachgedacht - danke nun auch für die Sichtbarkeit
Manfred Knausz (Mittwoch, 20 Februar 2019 20:29)
Guten Tag miteinander
Ich danke allen Initianten für die geleistete Arbeit.
Die Organisation "Menschenmedizin" ist wichtig und richtig.
Vor allem heute wo Angst statt Vertrauen auch in der Medizin die Menschen be-herscht. Bin gerne ein Mitglied!
Berchtold Adriana (Donnerstag, 21 Februar 2019 09:56)
Auch ich finde . Christian Hess Den besten Arzt,.
Danke für Eure Arbeit das Engagement und wünsche Euch viel Kraft und einen "langen Schnauf.
Simone Rutschow (Donnerstag, 21 Februar 2019 10:22)
guten Morgen liebe MenschenMediziner
was für eine wertvolle Begebenheit und das an einem so stark gelebten Ort wie die Rehab in Basel, gerade einen Steinwurf nach Frankreich. Der internationale Europortbus brachte schon viele Interessante Menschen mit uns auf den Weg- und rege unterhielten wir uns über unsere Ist Situation in diesem merkwürdigen Systhem der Gesundheit - was mich immer wieder- als Pflegefachfrau - aus der Fassung reisst. Ihr habt mitgeholfen das es immer wieder dortdrin auch Sequenzen gibt wo ich den Boden spüren kann.Danke- ich bin mit Euch ! -auf weiteren Annährung zur echt gelebtem Liebe und Interresse am Wohle der Mitmenschen.
Elisabeth Berchtold (Donnerstag, 21 Februar 2019 16:07)
Zu den 10 Jahren grossartiger Arbeit gratuliere und danke ich euch ganz herzlich. Die Artikel lese ich immer mit grossem Interesse!