Notfallexpertin Leandra Kissling war seit 2019 Mitglied des amm-Vorstands, nun verlässt sie das Gremium aufgrund neuer beruflicher Herausforderungen. Wir werfen mit ihr einen Blick zurück auf ihre Zeit in der amm und auf Besorgnis erregende Entwicklungen in ihrem Fachgebiet.
Wie ist es dazu gekommen, dass Sie sich im amm-Vorstand engagiert haben?
Ich habe ursprünglich als diplomierte Notfallexpertin im Notfall des Zürcher Stadtspitals Triemli gearbeitet. Diesen Beruf habe ich sechs Jahre lang mit grosser Passion und maximalem Engagement verfolgt. Dort lernte ich auch den jungen Assistenzarzt und damaligen amm-Vorstand Thomas Cerny kennen, der mich auf die amm aufmerksam machte und mich fragte, ob ich mich nicht ebenfalls als Vorstandsmitglied bewerben möchte. Er hat sofort gesehen, dass mir im stressigen Notfallalltag die Nähe zum Patienten, der Kontakt und das wertschätzende Miteinander oft etwas zu kurz kommen. Leider haben sich diese Zustände in meinen letzten sechs Jahren auf der Notfallstation stark zugespitzt. Ethisch nicht vertretbare Situationen gehörten plötzlich zu meinem Berufsalltag. Zum Beispiel konnte ich manchmal mehrere Stunden nicht mehr nach meinen (teilweise instabilen) Patient*innen sehen, weil es einfach immer so viel zu tun gab. Die Patienten füllen teilweise den ganzen Flur aus, sie sitzen und liegen überall, man weiss nicht mehr, wer wer ist. Und es müssen Patienten fixiert (also festgebunden) werden, die eigentlich durch die Präsenz und die verbale Beruhigung einer Pflegefachperson gut führbar wären – wofür aber die Zeit fehlt. Die Fixierung ist für viele Patient*innen stark traumatisierend und sollte nur im äussersten Notfall angewendet werden.
Als ich das Ausmass dieser «Verrohung» nicht mehr ertragen konnte, habe ich meinen geliebten Beruf schweren Herzens gekündigt. Jetzt arbeite ich als Leitende Medizinische Praxisassistentin (MPA) und versuche, in meinem Führungsstil die Menschlichkeit und Interprofessionalität zu leben, die mir die amm während meines Engagements im Vorstand beigebracht hat. Seit meinem Wechsel an den neuen Arbeitsort geht es mir viel besser, da ich nicht mehr jeden Tag mit moralischen Dilemmata konfrontiert bin. Die spannende und sehr anspruchsvolle Arbeit auf der Notfallstation vermisse ich jedoch nach wie vor jeden Tag.
Welches amm-Projekt lag Ihnen besonders am Herzen und warum ist das für Sie so wichtig?
Das erste «grosse» Projekt der amm, das ich kennengelernt hatte, ist auch das, dessen Grundsätze mir bis zum Schluss am meisten am Herzen lagen – das amm Café Med. Es ermöglicht es den Patient*innen als Laien, möglichst gut und umfassend über ihre Diagnose und allfällige Therapiemöglichkeiten informiert zu sein. Ein unfassbar wertvolles Angebot, da im stressigen Spitalalltag oft nicht genug Informationen vermittelt werden und wenn doch, dann oft nicht so, dass die Patient*innen diese nachhaltig aufnehmen können. Das habe ich auf dem Notfall nur allzu oft erlebt. Nach kurzen Arztvisiten, die mit schlecht verständlichen Informationen vollgestopft waren, fragten die Patient*innen oft mich, was denn da eigentlich gerade genau besprochen worden war, und wie sie jetzt entscheiden sollten. Dabei wären sie durchaus fähig, eine selbstbestimmte, kompetente Entscheidung zu treffen, wenn man ihnen die nötigen Ressourcen zur Verfügung stellen würde. Der Einbezug der Patient*innen in ihre Krankheit und deren Behandlung ist meiner Meinung nach auch ein hervorragender Ansatz zur Senkung der Kosten im überteuerten Gesundheitswesen. Informierte Patient*innen wehren sich eher gegen unnötige Behandlungen und können ihren Genesungs- und Krankheitsverlauf mit Überzeugung selbst bestimmen, was natürlich auch ihre Zufriedenheit und ihren Selbstwert stärkt.
Können Sie jungen, berufstätigen Menschen, die sich bei der amm engagieren wollen, Mut machen oder sind Sie in Ihrem Arbeitsumfeld auf Schwierigkeiten gestossen?
Die Reaktionen aus meinem Arbeitsumfeld auf meine Mitgliedschaft im amm-Vorstand waren durchwegs positiv. Mein Bekanntenkreis kannte mich bereits als «engagierte» Person, da ich auch im Vorstand der Sektion Zürich/Glarus/Schaffhausen des SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner) aktiv war. Meine Kollegen schätzten, dass ich durch mein Engagement bei der amm ein vertieftes Wissen zu vielen, teilweise auch komplexeren Themenfeldern hatte. So konnten sie sich mit mir insbesondere auch über ethische Probleme oder interprofessionelle Konflikte austauschen. Meist hatte ich dazu auch noch gutes Infomaterial parat, auf das ich durch die amm gestossen war. Somit kann ich alle jungen, berufstätigen Kollegen nur ermutigen, sich ebenfalls bei der amm zu engagieren. Der Aufwand ist minimal, jeder macht das, was ihm oder ihr zeitlich gerade möglich ist. Im Austausch hat man Zugang zu einem kreativen und sehr scharfsinnigen Gremium, das für viele berufliche und private Situationen immer wieder wertvolle Gedankenanstösse gibt. Auch als junge Kollegin fühlte ich mich im amm-Vorstand immer voll akzeptiert und integriert. Meine Meinung wurde genau so sehr geschätzt und beachtet wie die der erfahreneren Vorstandsmitglieder.
Was möchten Sie der amm zum Abschied auf den Weg geben?
Ich wünsche der amm alles nur erdenklich Gute. Ich hoffe, dass sie die Kernprojekte, die ihr am meisten am Herzen liegen, effizient weiterführen und sich von anderen Projekten, die vielleicht nicht so florieren, lösen kann. Ich wünsche der amm einen gut durchmischten Vorstand aus jungen und alten, berufstätigen und pensionierten Mitgliedern, damit der Ideenaustausch gedeihen und daraus weitere wunderbare Projekte erwachsen können. Ich wünsche ihnen, dass sie weiterhin die mediale Aufmerksamkeit bekommen, die ihr durch ihr grosses Engagement im Gesundheitswesen zusteht, und dass möglichst viele Patienten vom amm Café Med profitieren können. Danke für die lehrreiche Zeit!
Das Gespräch führte Stephan Bader.
Leandra Kissling, Mitglied des amm-Vorstands von bis 2019 bis 2022, ist diplomierte Notfallexpertin. Heute arbeitet sie als leitende Medizinische Praxisassistentin im Hausarzt-Zentrum Allcare in Zürich Altstetten. Als Ausgleich zur physisch und psychisch manchmal sehr anstrengenden Arbeit im Gesundheitswesen macht sie leidenschaftlich gern Crossfit oder entspannt auch mal im Wellness.