1. Was hat Sie dazu bewogen, sich bei der amm zu engagieren?
Ich kannte die amm aus den Medien, vor allem über das amm Café Med. Aus meiner Sicht steht sie für «Medizin mit Augenmass» – etwas, zu dem auch ich ermutigen möchte. Ein besonderes Anliegen ist mir der interprofessionelle Ansatz, den die amm ebenfalls vertritt und noch intensivieren möchte. Ich könnte im Vorstand die Sichtweise der Therapeut:innen einbringen und dazu beizutragen, dass die Interprofessionalität bei der amm auch personell noch weiter gestärkt wird. Therapie und Pflege sind Bereiche, wo die Patient:innen anders mit einem reden als bei einer Arztvisite: dieses Wissen sollte noch systematischer in Behandlungsentscheidungen einfliessen. Das gilt für Erwachsenenmedizin genauso wie für die Pädiatrie.
2. Sie waren fast 30 Jahre leitend am Kinderspital Zürich tätig. Wo sehen Sie im Bereich der Kinder- und Jugendmedizin Handlungsbedarf?
Wenn man ein Kind behandelt, kann man das nicht mit dem Kind alleine machen. Man muss die ganze Familie einbeziehen. Das bedeutet einen Zusatzaufwand, vor allem zeitlich, aber es fängt schon bei den Behandlungsräumen an, wo Platz sein muss für Eltern und Geschwister, bei fremdsprachigen Familien auch noch für jemanden, der professionell übersetzt. Das sollen nicht Geschwister oder zufällig anwesende Reinigungskräfte übernehmen müssen und so in psychologische Dilemmata gebracht werden.
Diese Zusatzaufwände für den Einbezug des Umfelds werden tariflich nicht genügend abgegolten – weder für die ärztlichen, pflegerischen noch therapeutischen Leistungen. Kein Wunder, dass es zu wenig Kinderärzt:innen, Kinderpsychiater:innen und Kindertherapeut:innen gibt. Und bei den Therapien zwingt das enge Tarifkorsett viele dazu, mit einem Zusatzangebot z.B. im Fitnessbereich, die Behandlung von Kindern quer zu finanzieren.
Motivierend war für mich, dass immer wieder interprofessionelle Zusammenarbeit als Chancegenutzt wurde. Man arbeitete mehr auf Augenhöhe zusammen, statt sich den schwarzen Peter zuzuschieben. Und immerhin war die Pädiatrie lange nicht im Fokus von Markt- und Effizienzgedanken. Man akzeptierte tendenziell, dass Kindertherapien mehr Zeit brauchen und Kinder keine «Klienten» sind, an denen die Spitäler verdienen können. Das ist leider Vergangenheit: Heute erwartet man, dass auch das noch rentieren muss.
3. Wo müsste man ansetzen?
Der interprofessionelle Ansatz, also Behandlungsentscheidungen auf alle beteiligten Disziplinen abzustützen, sollte eine Verpflichtung sein. Der Eindruck, den ein Spezialist von einem Patienten hat, ist oft nur ein Ausschnitt. Gespräche über Fragen wie «Mit was haben Familien Mühe? Was klappt gut?» in einer interprofessionellen Runde zusammen zu führen und Alternativen zu diskutieren, lohnt sich.
Zudem müssen sinnvolle vor- und nachbereitende Tätigkeiten und der Aufwand für den Einbezug des Umfelds entschädigt werden. Dafür zu sorgen, dass Patient:innen gut versorgt aus den Institutionen gehen, in ein gutes Netz, mit der Telefonnummer, wo die Therapeut:innen vor Ort sich mit Rückfragen melden können, ist wichtig. Aber auch solche Abklärungen und Vermittlungen können heute nicht abgerechnet werden. Ersatzlos streichen könnte man dagegen etliche – übrigens auch unbezahlte – administrative Auflagen: So viele zeitraubende Aufzeichnungen werden nie wieder von jemandem angeschaut.
Interview: Stephan Bader
Eva Stoffel ist dipl. Physiotherapeutin FH mit Zusatzausbildung für Pädiatrie. Von 1991 bis zu ihrer Pensionierung 2022 arbeitete Sie am Kinderspital Zürich, zunächst im Leitungsteam der Physiotherapie, bevor sie ab 2015 die neu geschaffene Gesamtleitung Therapien übernahm. Sie hat über 20 Jahre am Auf- und Ausbau des Ethik-Forums am Kinderspital mitgearbeitet und sich entsprechend weitergebildet. Neben ihrer klinischen Arbeit übernahm sie auch Lehrtätigkeiten in verschiedenen Fachgebieten.